Erzählungen

Die Wölfin von Bergholz-Rehbrücke
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Die Wölfin von Bergholz-Rehbrücke

Seitens der Festspielleitung wurde also Vertrauen in mich gesetzt. Karl-Ole Stuvensee war es, der mir, ohne mich vorher zu hören, alle wichtigen Klavier- und Fagottparts anvertraute. Es ging um seine Operette „Die Wölfin von Bergholz-Rehbrücke“. Und deshalb traute ich mich gar nicht zu fragen, wie das gehen solle, Klavier und Fagott gleichzeitig.
Ich übte kaum, wurde aber trotzdem immer besser. Ich hatte mir auch ein Englischwörterbuch von meiner Tante ausgeliehen um das Libretto besser verstehen zu können.
Sie war sauer, als sie es merkte. Es schien, als hätte sie sogar meine ganze Verwandtschaft gegen mich aufgebracht. „Schaut nur der Dieb!“, hieß es als ich am nächsten Morgen zum Frühstück in den Wintergarten kam.
Sofort fühlte ich mich unbedeutend. „Aber ihr wisst doch“, verteidigte ich mich, „Karl-Ole Stuvensee hatte für den Plot nicht auf heimische Autoren setzen wollen. ‚Die Wölfin von Bergholz-Rehbrücke‘ war von niemand geringerem als Sir Grayson Darsleworth ausgearbeitet worden. Und dann kommt Stuvensee höchstpersönlich und fragt mich, ob ich spiele. Und ihr wisst ja, mein Englisch… Aber was für ein Glück das ist, das ist…“ Aber da waren alle schon aufgestanden. Und niemand hatte mir zugehört.
Dann kam der Tag der Aufführung. Karl-Ole Stuvensee warnte mich. Ich solle die Bühne erst betreten, wenn ich an der Reihe war. Auf keinen Fall zu früh. Auf keinen Fall zu spät. Das Kostüm und die Instrumente stünden bereit, versprach er mir. Dann entschwand er, um sich unter sein Publikum zu mischen. Tumult dort entstand jedoch erst, als Sir Grayson Darsleworth auftauchte. Mit weit ausladenden Gesten zeigte er in die Richtung, in der er Stuvensee vermutete, setzte sich dann in die erste Reihe und legte seine Stirn in Falten. Nach einiger Zeit ebbten die Räusper und Hüstler ab und wir, die wir hinter dem Vorhang warteten, hatte noch ein wenig Zeit, um zur Ruhe zu kommen.
Ich schäkerte ein wenig der Darstellerin der Apollonia, deren Aufgabe es war, nach der zentralen Szene mit der Kartoffelsuppe die Wölfin zu besänftigen. Die Operette war eigentlich ganz klassisch angelegt. Eine Schankhauswirtin bei Vollmond auf der Blumenwiese hinter dem Telegraphenmast, ein irrer Greis, der ihre Verwandlung vorantreibt, ein paar Verwechselungen und Intrigen, ein großer Schlumpf und dann die Szene mit der Kartoffelsuppe.
Das Orchester setzte an. Apollonia und ich vergnügten uns indem wir Sir Graysons Nachnamen auf alle möglichen und unmöglichen Arten aussprachen.
Und plötzlich wurde die Zeit knapp. Noch siebzehn Takte und ich war noch nicht einmal umgezogen. Meine Instrumente hatte ich auch nicht einspielen können. Ich schlüpfte schnell in mein Schlumpfkostüm, Apollonia half mir mit dem Reißverschluss an der Mütze und schon stolperte ich über die Hinterbühne.
Man hatte mir ein Sopranfagott bereitgestellt, ein Instrument, das ich nie zuvor gespielt hatte. Natürlich kam ich zu spät. Aber das Orchester konnte mit ein paar gekonnten Improvisationen über das Wölfinnen-Motiv mein kleines Missgeschick geschickt überspielen. Karl-Ole Stuvensee zwar lief rot an, doch das Publikum war gnädig gestimmt und bemerkte von all dem kaum etwas. „Zumindest erhöht diese Verzögerung die Spannung vor meinem Auftritt.“, dachte ich mir.
Ich trat auf die Bühne. Es wurde gelacht. „Ach der!“ hörte ich die Leute tuscheln. Ich selbst wunderte mich über das Kostüm des Dirigenten, ich hatte ihn ja vorher gar nicht sehen können. „Diese Fransen“, dachte ich, „und warum eine Pudelmütze?“ Ich atmete tief durch und setzte mich an das Klavier und begann etwas zu spielen. Die flauschigen Schlumpfenfinger meines Kostüms verhinderten zwar das all zu virtuose Spiel, doch gelang es mir, der „Mondnachtballade vor der Verzauberung“ sehr innige subtile Unterklänge einzuhauchen.
Der Saal wurde still, als ich, während die linke Schlumpfenhand über die Tastatur huschte, mit der rechten nach dem Sopranfagott griff. Zugleich nahm ich ein bekanntes Gesicht wahr. Meine Tante. Ich sah, wie sie sich unruhig auf ihrem Stuhl hin und her schob, als schien sie auf jeden meiner Fehler zu lauern um dann mit Genugtuung einigen ihrer Nachbarn zuzunicken.
Während des Spiels erhob ich mich vom Klavier, geschickt überbrückte ich einen schweren Übergang von Es zu Cis-Dur mit ein paar Trillern auf dem winzigen Fagott, nahm dann die zweite Hand hinzu und setzte zum Solo vor der Zubereitung der Kartoffelsuppe an. Bis Apollonia auf der Bühne erschien, sah Karl-Ole Stuvensee ausschließlich mich, und zwar sehr scharf, an. Eine leichte Nervosität überkam mich. Die Vibration meiner Melodie drang durch das Schlumpffell bis in mein Innerstes und ich bin mir sicher, dass geübte Zuhörer das leichte Beben meines Körpers in einzelnen Tönen des abschließenden Pfeffer-und-Salz-Motivs heraushören konnten.

Niemand hüstelte, niemand prustete mehr. Ich spielte, wie ich noch nie gespielt hatte. Karl-Ole Stuvensee blickte erleichtert in die Runde. Meine Tante hörte mit dem Gerutsche auf und blickte auf Sir Grayson Darsleworth. „Ob sie staunt?“, dachte ich. „Über mich? Könnte das hier der Beginn meiner Kariere sein? Ging es hier und jetzt endlich einmal um mich?“
Die Apollonia-Szene war danach in meinen Augen  eigentlich nur noch unbedeutend. Nach dem Finale brach mir der Applaus entgegen. Ich verneigte mich kurz, verschwand hinter dem Vorhang und packte meine Sachen zusammen, schlüpfte aus dem Schlumpfkostüm und setzte mich dann, ein wenig außer Atem und sehr bescheiden ins Publikum, um mich für die überstandene Premiere feiern zu lassen.
„Aha, da bist du ja!“, sagte meine Tante. „Weißt du, du hättest mich vorher schon einfach mal fragen sollen wegen des Wörterbuchs. Das ist überhaupt der einzige Grund, warum ich hier bin.“, sagte sie. „Ja, das sehe ich ein!“, erwiderte ich. „Du weißt, dass deine Eltern zutiefst enttäuscht von dir sind?“ fragte meine Tante. "Aber das war ja klar. Sie sind noch immer sauer auf dich. Ständig bringst du diese Unruhe in die Familie. Diese Musik hier bedeutet dagegen gar nichts.“
Meine Schwester kam mit einer handvoll Freunde. „Das ist er!“ sagte sie und zeigte auf mich. Ich duckte mich. Alle blickten  in meine Richtung, zwar kurz, aber drohend.
„Was soll das?“ dachte ich, und dann fragte ich laut: „Was soll das?“
Da drehten sich auch die anderen anwesenden nach mir um. „Das ist der mit dem geklauten Wörterbuch“, wurde getuschelt. Und auf ihren Gesichtern konnte ich den Hass lesen, den sie nun stellvertretend für alle abwesenden Wörterbuchdiebe, auf mich richteten.
Ich musste erkennen, dass ich hier unten im Leben ein anderer und viel unbedeutenderer Mensch war, viel kleiner, als der große musizierende Schlumpf, den ich vorhin auf der Bühne gemimt hatte.
Ich hatte mir den Applaus nur für kurze Zeit erkauft um ihn dann beim Heruntersteigen von der Bühne dort oben stehen zu lassen. Das Publikum, war nicht mehr mein Publikum und hatte seinen Applaus schon längst vergessen.
Karl-Ole Stuvensee, Sir Grayson Darsleworth, meine Tante und meine Schwester und die handvoll Freunde gingen, Apollonia unterhakend, feiern.
Ich war und blieb ich, egal was ich tat. Dann zog ich mein Schlumpfkostüm wieder an und ging nach Hause.