Heribert Klarenke hatte schon lange keine Sternschnuppen mehr gesehen. Früher, als er noch zur Schule ging, hatte er sich des Öfteren in den Garten seiner Eltern gesetzt, des nachts, wenn alle anderen schliefen, sich ein Bier aufgemacht und den Himmel nach den kleinen Hoffnungszeichen abgesucht. Natürlich gab es Sternschnuppen. Und auch, wenn er ansonsten wenig von der Astrologie hielt, Sternschnuppen waren etwas besonderes.
In der Schule gehörte Heribert nicht zu den besten und angesehensten. Während viele seiner Klassenkameraden ihre ersten Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht sammelten und natürlich damit in den Hofpausen auftrumpften, hielt Heribert sich scheu zurück. Er dachte immer, er sei anders als die anderen. Dabei beließ er es und ersparte sich die Frage, ob es einen Grund gäbe, warum das so sei.
Seine Eltern hatten ihn getreu der in Borgarien vorherrschenden religiösen Grundsätze des Zesorismus erzogen. Bis zum 21. Geburtstag war nach dessen uralten Glaubenssätzen jeglicher sexueller Kontakt untersagt. Natürlich schenkte diesen überkommenen Regeln in Heriberts Umgebung niemand mehr Beachtung. Es war lediglich ungern gesehen, wenn man den wöchentlichen Ritualen fernblieb. Heribert fehlte nie. Auch wenn seine Eltern sich die Freiheit herausnahmen, ab und an auf die Versammlungen zu verzichten.
Sonderbarerweise hatten die Rituale auf Heribert auch nach so vielmaliger Wiederholung noch immer nicht ihre Anziehungskraft verloren. So machte er sich denn hin und wieder auch alleine auf den Weg in das einem Schiffsrumpf nachempfundene Holzgebäude. Er nahm für gewöhnlich im vorderen Teil des Schiffes Platz und suchte mit seinen Augen bis zum Beginn des Rituals die Schnitzereien an der Decke nach unentdeckten Konstellationen ab. Am meisten war er fasziniert von den vielen Kampfszenen zwischen den Herlans-Kämpfern und den Kleinwüchsigen. Oft tauchten Pferde auf, die fast immer von einem Berg herunter geritten kamen. Oft sah man auch Herlans Mannschaft an Bord eines Schiffes nach den Kleinwüchsigen Ausschau halten.
Der flache Handrücken vor der Sonne, ist das Symbol des Zesorismus. Es war auch in Heriberts Gemeinde an zentraler Stelle unter dem Dach angebracht. Der beste Maler Borgariens, Hans Tscholke, hatte hier um das Symbol herum die Landschaft Zesor in vier Teilen gestaltet. Links der Hand grenzte an den Sonnenrand ein Flusslauf, dahinter die Weinberge und natürlich das Schiff Herlans, kurz vor dem Landgang. Nach oben hin lag ein mächtiges Gebirge auf dessen Spitze die Hütte des Adjutanten lag. Auf der rechten Seite sah man die ewige Grenze zwischen dem zesorischen Grasland und der Eiswüste. Im unteren Teil befand sich versteckt in einem Wald die Hütte des Glaus. Man musste lange nach oben schauen, bis man auch die Fußspuren entdeckte, die sich durch alle vier Teile Zesors zogen. Alles war miteinander verbunden. Alle Kräfte, denen man in Borgarien vertraute, waren um diese Hand vereint. Eis und Gras, der Glau und der Adjutant, Wasser und Wein.
Zu Beginn des Rituals erhoben sich alle Anwesenden und schritten nach vorn an den eisernen Tisch des Priesters. Hier lag ein Holzbalken, in den alle symbolisch, zum Zeichen ihrer Anwesenheit und im Gedenken an Herlan eine Kerbe schnitten. Danach erschien die Priesterin, begleitet von drei Knaben. Die Gläubigen traten zurück, setzten sich in ihre Bänke und lauschten den Worten. Nach den Worten, bestehend aus Geschichten, die sich um den Helden Herlan rankten und einem dazu passenden Verheißungsspruch der Priesterin, folgte die zentrale Handlung der Zeremonie: die Knaben schlossen den Kreis um sie, ihre Hände berührten sie dabei nur an den Fingerspitzen. Die Priesterin drehte sich langsam im Kreis und streckte dann ihre Arme nach oben. Dazu erhoben sich alle und schritten in der selben ruhigen Art wieder nach vorn. Über dem Kopf der Priesterin hing ein großes Messer, dass durch die Drehung der Priesterin zu pendeln begann. Dann griff sie plötzlich nach der Waffe und senkte sie in eine Kerbe des eisernen Tisches, wodurch ein heller metallischer Klang hervorgerufen wurde. Die Knaben knieten nieder und beim Anblick des noch schwingenden im Tisch steckenden Messers begannen die Gesänge zum Lobe Herlans. Das ganze dauerte nur an die 20 Minuten, wirkte auf Heribert und viele andere, die regelmäßig kamen, derart intensiv, dass auch der Gang nach Hause noch von Gesängen begleitet wurde.
Dennoch hatte Heribert keine Probleme damit, sich auch den Sternschnuppen zuzuwenden. Er hatte viele Wünsche, seltsamerweise aber konnte er sich im entscheidenden Moment nie für einen entscheiden. Was, wenn er tatsächlich in Erfüllung gehen würde, was wenn das Unglaubliche geschah? Manchmal zwang er sich solange auf den Boden zu schauen, bis er seinen größten Wunsch gefunden hatte. Erst dann blickte er auf und wartete. Doch wieder, als es soweit war, getraute er sich nicht. Er glaubte fest daran, dass es jedem Menschen nur einmal vergönnt sei, einen Wunsch erfüllt zu bekommen.
So kam es also, dass Heribert Klarenke Zeit seiner Jugend voller Wünsche blieb und irgendwann des Wartens überdrüssig wurde. Zwar sah er noch viele himmlische Zeichen, doch aus keinem konnte er Nutzen ziehen. Er widmete sich, nachdem er seinen Schulabschluss mit Mühe geschafft hatte, den weltlichen Dingen, scherte sich nicht mehr um den Himmel, kehrte auch der Religion seiner Eltern den Rücken zu und machte eine Lehre bei der Südborgarischen Staatsbank, um fürderhin das Geld des braven und arbeitsamen Bevölkerungsteils seines Heimatlandes zu verwalten. Er bewies dabei sogar einiges Geschick und konnte, obwohl ihm kein Hochschulstudium vergönnt gewesen war, eine recht beeindruckende Karriere machen, übernahm im Auftrag seiner Bank die Regionalverwaltung, einer durch kluge Politik des Ersten Adjutanten Südborgariens hinzugewonnenen Provinz im Norden und richtete sich häuslich und familiär auf ein geruhsames Leben ein.
Heriberts Haus lag in einer Siedlung, die wie viele andere in unmittelbarer Umgebung der alten, bestehenden Provinzstädtchen schon bald nach der Vereinigung mit Borgarien entstanden waren. Heribert hatte sich gleich nach seiner Versetzung um eins dieser gut ausgestatteten Häuser beworben. Die Gestaltung entsprach ganz dem südborgarischen Vorbild und bot den zugezogenen dieses trügerische Gefühl der Geborgenheit. Hin und wieder kam es allerdings vor, dass es auch Einwohner der Provinz in diese Vororte zog, weil sie sich dem neuen Lebensstil anpassen wollten, doch genügte oft deren Einkommen nicht und schon bald zogen sie wieder ab und ließen die Siedler unter sich.
Heribert war es ganz recht, dass er vom Leben der anderen nur beruflich berührt wurde. Er vertrat die Ansicht, dass es in seiner Position gut sei, Distanz zu bewahren. Für ihn zählten etwa bei der Bewilligung eines Kredits nur objektive Kriterien, alles was zählbar war und darüber hinaus nur geringe Risiken barg, durfte ihn interessieren.
Als Heribert vier Jahre verheiratet war, begannen sich die Dinge zu seinem Erstaunen und zum Erstaunen seiner Frau zu verändern. Beide konnten sich anfangs nicht erklären, wie das kam, doch beide spürten deutlich, jeder auf seine Weise, dass sich da etwas tat.
Am Sonntag, den 24. Juni, saßen Heribert und Juliane Klarenke auf der Terrasse ihres Hauses und betrachteten die Kiefern, die sich sanft in der lauen Abendluft hin und her bewegten. Gerade noch hatte er an die morgen anstehende Verwaltungsratsversammlung gedacht, als seine Frau ihn ansprach: „Hast du das gerade auch gesehen?“