Erzählungen

Bestandsaufnahme auf einer Zugfahrt im Jahr 1999

Eine etwas große Nase ist mir zuerst aufgefallen. Ihre Brille war ein Relikt aus dem letzten Jahrzehnt. Ich glaube nicht, dass sie mit sich zufrieden ist. Natürlich raucht sie. Viel. Eine braune Jeans, ein schwarzer weit ausgeschnittener Pullover, den sie sich eigentlich nicht zu tragen getraut, denn sie bedeckt die ungewünschte Blöße mit einem Halstuch, verwaschenes Weiß, wahrscheinlich indisch.

Ich bin schon seit einiger Zeit dabei sie zu beobachten. Sie hat mir einmal ernst in die Augen gesehen. Sie weiß, ich beobachte sie, aber sie ist sich nicht sicher, ob ihr das gefällt.

Wohin sie fährt? Schwer zu sagen. Sie würde in eine Etagenwohnung in einem Neubaublock passen. Ost oder West, egal.

Gerade fällt mir ihr Mantel auf, bräunlich bis grau, wie der meiner Großmutter väterlicherseits. Wie passend dazu ist doch ihre Uhr. Nur die Uhr.

Oh, ich ermüde sie. Sie hat die Augen geschlossen! Was sie wohl denkt?

Ja die Uhr habe ich mir selbst ausgesucht. Sie ist das eigentliche Stück Ich an mir.

Ach so. Die Schuhe habe ich vorhin übersehen. In den 80ern wurden sie Stiefelletten genannt. Ich denke also, sie hat in den 80ern ihre Pubertät erlebt. Weiter ist sie wohl nicht gekommen. Ob sie geliebt hat? Vermutlich ohne Antwort. Die ist ausgeblieben, bis sie nicht mehr warten konnte, oder verstorben. Sie trägt doch eigentlich Trauer.

Was bedeutet sie der Welt? Auf jeden Fall hat sie einen Charakterzug, der Mitleid erweckt. Bei mir. Blass ist sie, ungeschminkt, natürlich. Sie hat die Beine übereinandergelegt. Doch, doch: ihre Figur erregt mich, auch wenn sie vermutlich überall blass ist. Aber was ist mit ihren Gesichtszügen? Eine kürzere Nase würde sie adrett machen. Die Frisur: nach vorn gekämmter Pony, bis an die sanft geschwungenen Augenbrauen, hinten wohl längere Haare. Also nicht sehr schick. Ihre Augen: Schade, ich kann sie nicht sehen. Vermutlich dunkel. Der Kopf läuft zum Kinn arg spitz zu. Das Kinn selbst aber ist hübsch. Nein, sie ist doch noch nicht zu alt. 21 – 23 vielleicht. Sterben wird sie mit 73. Vermutlich. Sie wird noch eine ganze Weile jung bleiben. Vielleicht entdeckt sie sich in fünf bis sechs Jahren. Sie hat gute Chancen auf zwölf Enkelkinder.

Nun schläft sie und weiß nicht, was ich über sie denke. Träumt sie vielleicht. Gehört sie zu der aussterbenden Art Mädchen, die von Prinzen träumt. Oder davon träumt, dass Prinzen von ihr träumen, weil sie sie in der Realität ihrer Träume nicht beachten? Sie wurde von den kleinen Jungen vergessen, die sie in Grundschuljahren noch zu sich aufs Schloss geholt hätten, weil sie zu lieb war. Schon bevor sie die Erotik entdeckten. Als sie ihr eigenes Schönheitsideal zu Gunsten der allgemeinen Vorstellung von Schönheit über Bord geworfen haben.

Ich bin jetzt allein mit ihr im Abteil. Schade, dass sie schläft. Ich würde sie etwas fragen. Etwas belangloses, unverfängliches. Ein Kompliment an ihre Uhr vielleicht, oder zufällig ihre Ohrringe entdecken. Wie würde sie reagieren. Sie wird vorsichtig sein, von sich zu erzählen. Vermutlich wird sie gar nicht reagieren oder Phrasen gebrauchen. So, wie die Leute, die sich zu oft sehen, um sich noch wirkliches zu sagen. Vielleicht wacht sie rechtzeitig auf. Es müsste eine Durchsage kommen. Bloß nicht ihr Bahnhof. Sie wird früh aufgestanden sein. Zu spät der Nachbar ist wieder im Abteil.

Auf der Toilette roch es unangenehm. Nach Mentholzigaretten.

Sie hat sich unterdessen bewegt. Ich hätte es wissen müssen. Wir sind im Osten, steigt sie hier aus?

Auf ihrer Hand hat sich das Muster der Sessel abgezeichnet. Das passiert mir auch sehr oft. Mangel an Durchblutung. Nein, sie wacht nicht auf.

Sie wird den Osten nicht mögen. Was will man sagen. Sie verinnerlicht die Einstellung ihres Gastlandes. Und das nagt an ihr selbst. Sie wird es nicht wissen.

- Wir verlassen Magdeburg - Es wird kühl - Ist noch jemand zugestiegen?

Mein Nachbar liest. Der andere starrt aus dem Fenster und ich beobachte Mädchen. Dieses Mädchen. Dieses, das noch versucht zu schlafen, aber sie wird aufwachen und nichts wird anders sein. Sie hatte kurz die Augen auf und hat schon zum zweiten Mal die Seite gewechselt, mir ein wenig zugewandt. Das wird nichts ändern. Wenn sie jetzt aufhört mit ihren Bemühungen meinem Blick zu entgehen, werde ich sie nie mehr sehen. Und sie wird aufwachen mit jenem trüben Geschmack zwischen Halbschlaf und ungetrunkenem Nachmittagskaffee im Mund. Bei Rauchern wohl noch unerträglicher.

Dicke Menschen gehen im Gang nach hinten, im Zug, der nach Osten fährt. Als scheuten sie sich vor noch mehr Osten. Es wird ihnen nichts helfen. Keiner geht nach vorn. Wir sind gerne in unserer Lethargie. Das ist die Atmosphäre.

Die Elbe führt noch Wasser, die Menschen, vor allem die Dicken, rauchen. Berlin ist nicht mehr weit. Welcher Fluss liegt bei Magdeburg? Das war definitiv nicht die Elbe. Irgendetwas anderes.

Zusammengekauert, den Kopf gegen die Scheibe, liegt sie und sitzt und lummert und lehnt sich an. Unangenehm so zu schlafen. Wachküssen? Wachküssen müsste man sie. Nicht nur sie. Eine ganze Nation.

Leider sind die Prinzenträume ausgeträumt. Ist halt Lethargie hier. Nicht nur im Zug. Im ganzen Land. Phlegmatisch und intolerant.

Sie schläft noch. Noch. Beim Küssen würden uns Passanten beobachten. Ein faszinierendes Gefühl. Kurz würden sie stehen bleiben, aufblicken und dann weiter gehen. Aber ein innerliches Schmunzeln werden sie nicht abschalten können. Es überkriecht sie von Innen. Bis zum Ausbruch. Man kann sich nicht dagegen wehren. Der Beginn einer Bestandsaufnahme bedeutet, dass sie bald überflüssig ist.