Es gibt Städte und es gibt Orte. Unter den Orten gibt es diejenigen, die ihren Reiz aus der Tatsache ziehen, Vorort einer bedeutenderen Stadt zu sein und diejenigen, die soweit weg von aller Zivilisation liegen, dass man sie als ländliche Idylle bezeichnet. Nattwerder ist nichts von all dem. Es taugt nicht dazu Vorort von irgendwas zu sein, denn es liegt so weit ab von allem, dass scheinbar kein Weg direkt hinein-, geschweige denn hinausführt. Auch von Idylle, lässt sich hier nur bedingt sprechen.
Zwei, drei Kilometer entfernt von Golm, hinter einer Mülldeponie und einem im Schwemmland der Deponie gewachsenen Wald, der im Winter so tot scheint und im Sommer so beängstigend wuchert liegt Nattwerder. Man könnte den Ort an der modrigen Wublitz für das Ende der Welt halten, doch liegt er nur am Ende einer durch die Havelseen und diverse Kanäle gebildeten Insel. Der Name erinnert an Schlangen, doch außer einer Handvoll Menschen wurden hier bisher keine größeren Lebewesen gesichtet.
Südlich von Nattwerder liegt das Golmer Luch. Leichte Anhöhen aus Sand und Lehm wechseln sich hier mit eher sumpfigen Gelände ab. Wir sind im brandenburgischen Jungmoränengebiet. So liegt auch westlich der Wublitz das Wolfsbruch, eine sumpfige Wiese, die von der Wublitzbrücke aus einigermaßen hübsch anzusehen ist, von wo jedoch besonders an sonnigen Tagen diverse Gase aufsteigen, die der Nase wenig schmeicheln und an Fäulnis und Verwesung erinnern. Hier in einer Ansammlung diverser Schuppen, Hütten und Datschen fand Ludger Wagner, der nach einer stillen Bleibe für sich und seinen Hund Pfiffi suchte, einen Platz zum glücklich sein.
Ludgers neues Heim lag versteckt hinter einer Hecke, direkt am morastigen Ufer der Wublitz. Es war überwachsen von den Bäumen des Deponie-Waldes und nur ab und an kamen die benachbarten Eigentümer aus Berlin um hier nach dem Rechten zu sehen. Wohl in schlechteren Zeiten hatten sie sich ausgerechnet hier ein persönliches Refugium geschaffen, dass sie jetzt eigentlich nicht mehr benötigten. Ludger Wagner konnte hier also ungestört seine Tage verbringen und in trauter Einsamkeit dem fernen Rauschen der Kiefernwälder des Preetzberges oder dem Getöse des Berliner Rings lauschen.
Ja, der Berliner Ring – sein Ring. Wie oft zog es ihn mit seinem alten VW raus auf die Straße. Einmal bei Nacht über den Ring. 196 Kilometer von Nattwerder bis Nattwerder – der längste Autobahnring Europas. Seit 1939 brausten hier die Autos um die Reichshauptstadt Berlin. Ludger überkam hier jedes Mal das Gefühl etwas ganz Großem anzugehören. Die mächtige Hauptstadt seines Vaterlandes hing mit ihm an einer Ader.
In den ersten Tagen seiner Ankunft setzte sich Ludger gerne an das Ufer der Wublitz in einen Lehnstuhl und blickte auf den See, dessen schlammiger Grund hin und wieder als Zeichen erfolgter Verweseung einige Blasen übelriechender Gase aufsteigen ließ. Wer kann schon wissen, was im Untergrund alles vor sich geht, dachte Ludger. Manchmal lehnte er sich aber auch weit zurück um am Himmel dem Zug der großen Airlines Richtung Süden und Westen nachzuschauen. Hier saß er, bis der weiche Boden seinen Lehnstuhl so weit in sich aufgenommen hatte, dass die Schieflage ihn zwang, den Platz zu räumen. Dann ging er ins Haus, öffnete sich eine gute Dose Bier und überlegte, wie er sein neues Heim einrichten sollte.
Im geräumigen Keller seines Häuschens wollte Ludger einen Traditionsraum. Das war klar, und das sollte das erste sein, was er in Angriff nahm. Die oberen Räume waren ja so weit in Ordnung und die Holzpaneele für die Küche und die Wohnstube konnte er immer noch anbringen. Im Keller aber wollte er all den Dingen, die ihm ans Herz gewachsen waren einen würdigen Platz geben: die schwarzen Stiefel aus seiner Lehrlingszeit am Prenzlauer Berg, das alte Besteck aus dem Lager am Wildpark, die Embleme und Flaggen, die sich im Laufe der Zeit angesammelt hatten und seinen treuen Baseballschläger.
Zunächst musste er aber Platz schaffen. Es gab viel auszuräumen. Unglaublich, dachte Ludger wie viel nutzlosen Kram sein Vorbesitzer hier eingelagert hatte: Säcke, Blechwannen, Schaufeln, Hacken, noch halbvolle und volle Benzinkanister, zwei Fahrräder, eine Schubkarre und eine Waschmaschine. In einer Ecke moderte ein Berg alten Baumaterials vor sich hin. Ludger benötigte mehrere Tage um das alles in den nahen Deponiewald zu schaffen. Dort, wo er die Wände frei geräumt hatte, hätten sich einem guten Beobachter Risse im Mauerwerk gezeigt. Ludger aber, in Gedanken schon bei seinem ersten Kameradschaftsabend, den er hier in seinem kleinen Paradies abzuhalten gedachte, sah diese Risse nicht.
Irgendwann war es dann endlich soweit. Für den nächsten Abend hatten sich seine Kameraden aus dem Fläming und aus Ruppin angekündigt. Ludger kritzelte im Licht einer einfachen Glühbirne auf einen Zettel, was alles zu besorgen sei. Sein Plattenspieler kratzte die letzten Klänge aus einer alten mit Kaisermärschen bespielten Schallplatte, als draußen der Sturm begann und drinnen die spärliche Beleuchtung erlosch.
Pfiffi, der bis dahin friedlich am Herd gedöst hatte, wachte auf und suchte sich ein sturmsicheres Versteck im Keller, kam jedoch schon bald aufgeregter als zuvor wieder zu seinem Herrchen zurück.
Anders als Pfiffi ging es Ludger. “Herrlich”, dachte er. Er stellte sich ans Fenster und sah zu wie der Deponiewald zu schaukeln begann. Über die Wublitz zogen erste kräftige Wellen und klatschten an das Ufer. Einige nicht rechtzeitig entflohene Nachbarn ließen ihre Rollos herunter, Äste krachten polternd auf das Dach oder bohrten sich lautlos in die aufnahmebereite Erde. Drüben am Einhaus fiel eine Datsche zusammen. “Herrlich”, dachte Ludger erneut, der ein Faible für Umweltkatastrophen hatte. “Morgen ist der ganze Rotz weg und der Mensch hat Platz für Neues”. Nur um die Standfestigkeit seiner eigenen Behausung machte er sich denn doch Sorgen. Eine weitere Dose Bier löste seine schlimmsten Befürchtungen jedoch schnell auf.
Ludger schlief ein, und ohne Zuschauer hatte gegen Ende der Nacht auch der Sturm keine Lust mehr an seinen zerstörerischen Spielchen. Lediglich Pfiffi stromerte noch lange durch das Haus und knurrte jedes Mal, wenn er an der Kellertreppe vorbeikam.
Am nächsten Morgen, nach dem Einkauf richtete Ludger alles für den erwarteten Besuch her. Als erstes suchte Ludger eine kleine Fläche für die Deutschlandflagge. Der Boden war mit Ästen und Zweigen übersät. „Schön!“, dachte Ludger – so haben wir Material für ein tüchtiges Feuer. Er trug also alles Geäst zu einem großen Haufen zusammen. Und „Mist!“, dachte er, als er noch die geborstenen Reste aufsammelte. „Warum muss Hundescheiße genauso aussehen wie Astbruch. Pfiffi!“ Der Hund kam nicht.
Was für das Feuer unbrauchbar war gelangte mit einem kräftigen Wurf in die Wublitz. „Hier kann es auf sein Schicksal warten.“ Als Ludger seine Flagge gehisst hatte, kamen auch schon die ersten mittelmärkischen Mannen an. Ludger hatte gerade noch Zeit aus dem verschwitzten Trainingsanzug zu schlüpfen und seine ebenso verschwitzte Nazikluft überzustreifen. Pfiffi wurde noch schnell eine Dose Frolic bereitgestellt und schon bald konnte man auch jenseits des Sees ein ergriffenes Gröhlen und Lamentieren vernehmen. Das Feuer wurde entzündet. Die eingekaufte Beköstigung wurden verteilt, sodass sich nun das Zischen der stinkig rauchenden Äste mit dem der sich öffnenden Bierdosen harmonisch vermengte.
„Kameraden – wenn die Zeit gekommen ist, werde ich euch in das Schmuckstück meines kleinen Anwesens einweihen. Erst mal wollen wir uns aber gehörig einen hinter die Binde kippen.“ Größere Worte waren auch nicht angebracht. Man starrte ergriffen auf die Rauchwölkchen des kokelnden Lagerfeuers, die sich vor der Flagge in die märkische Luft hoben. Jeder gedachte bei diesem Anblick still der großen Zeit, die sie alle nicht mehr hatten miterleben dürfen. Ab und an entfernte sich einer der Kameraden um wehmütig in die Wublitz zu pissen, eins werdend mit dem ruhigen Strom der Havel und ihrer Seen. Kreislauf des Lebens, Verwesung und Neubeginn so eng beieinander.
Plötzlich schallte ein Ruf durch die Abendluft. „Asseln, alles voller Asseln!“ Alle griffen unwillkürlich nach ihren Baseballschlägern, Messern und was sie sonst noch am Mann hatten, bereit sofort zum Angriff überzugehen. „Wer hat uns verpfiffen?“ fragte sich Ludger noch. Egal, eine kleine Balgerei war durchaus nach seinem Geschmack. Doch bald schon legte sich der Tumult wieder. Nur Kameraden waren auf dem Grundstück. Kein Fremder war zu sehen. Dann aber kam Wolfram totenbleich aus Ludgers Haus gewankt, Schweiß troff ihm von der Stirn. „Es waren zu viele!“ röchelte er noch und übergab sich. „Wo sind die Schweine?“ drängte Ludger auf ihn ein. „Im Keller!“
„Los! Die packen wir!“ gab Ludger, ganz Gastgeber, die Losung für den weiteren Verlauf des Abends aus. Das Pack sollte sich unbemerkt in seinen Traditionsraum geschlichen haben? Er stürmte gefolgt von den anderen ins Haus und die Kellertreppe hinunter, wo Pfiffi schon aufgeregt wartete. Aber auch hier sahen die wackeren Kameraden nicht eine Menschenseele. Erst als Licht gemacht wurde, sah Ludger, dass Wolfram nicht von Feinden der nationalen Bewegung gesprochen hatte, sondern von Porcellio scaber. In seinen Keller, in seinen Traditionsraum hatte sich, eingedrungen durch die Risse im Gemäuer, eine Kellerasselkolonie angesiedelt. Eine silbrig braune Masse sich langsam bewegender Tierchen, überall krochen sie, überall zogen sie begierig auf Nahrungssuche ihrer Wege. An mehreren Stellen hatten sich Asselgrüppchen gebildet. Einige Einzeltierchen zogen lange klebrige Staubfäden, die sich an ihrem Plattenpanzer angeheftet hatten, hinter sich her. Manche krochen vorwärts, während drei vier andere auf ihrem Rücken hockten. Und wieder andere hatten schon die Kellerwände für sich erobert. Krabbelten an Ludgers Stiefeln, nagten an seinem Baseballschläger, hatten schon erste kleine Löcher in einen Wimpel der Teutonia Hoher Fläming gefressen. Und aus den Mauerritzen kamen immer noch mehr hervor.
Bei diesem Anblick musste auch Ludger sich übergeben, einige Kameraden taten es ihm gleich. Die lustigen Tierchen machten sich nichts aus dem lauen Bad – es schien sogar, als hätte sich hier für die kleinen Destruenten eine neue Nahrungsquelle aufgetan.
Man verließ kommentarlos den Keller, verschloss in der irrigen Annahme, dass das etwas bringen würde, die Tür und begab sich zurück zum Lagerfeuer. Viele aber, darunter die Kameraden aus dem Fläming, gingen, nachdem sie ihren Mägen an der Wublitz Erleichterung verschafft hatten, direkt zu ihren Fahrzeugen und verschwanden ohne ein Wort des Abschieds.
Ludger beratschlagte mit dem Häufchen Übriggebliebener, was zu tun sei. Irgendwie müsse man der Plage Herr werden. Man müsse die verdammten Viecher los werden, ausrotten mit Stumpf und Stiel und zwar ein für alle mal. Unter den Stiefeln zerquetschen. Mit Öl übergießen und abfackeln. In die Wublitz mit ihnen, in einem Sack mit Steinen. Ins Lagerfeuer sollen sie und verbrennen, ein Fanal gegen den Unrat wolle man aus ihnen machen. Ludger stimmte allen Plänen zu. Und so kam es, dass aus dem abschließendem vaterländischen Besäufnis nichts wurde und dass die Männer stattdessen in einen patriotischen Kampf gegen den Schmutz im Keller im Besonderen und gegen den Schmutz der Welt im Allgemeinen zur Tat schritten.
Ludger stimmte die „Wacht am Rhein“ an, um den Kameraden Mut für den bevorstehenden, sicherlich nicht schönen, aber dennoch heldenhaften Kampf zu machen. Wolfram sagte schnell, er solle das lassen, man müsse sich konzentrieren.
In einem Schuppen auf dem Nachbargrundstück fanden sie Schaufeln, Besen und Harken zum Zusammenkehren der krauchenden Brut. Es gab auch Säcke, Blechwannen und sogar eine Schubkarre um sie dem Wasser oder dem Feuer, das man mit etwas Benzin nochmals zu neuer Hitze entfachen konnte, Preis zu geben. Einige nutzten ein Fahrrad um den Transport vom Haus zur Wublitz effektiver zu gestalten. Und als der Morgen graute, hatte man bis auf einige Hundert in die Ritzen des Mauerwerks zurückgekrochene Asseln die Sache soweit im Griff.
Erschöpft legte man sich draußen zum Schlafen nieder – ins Haus wollte so recht niemand. Pfiffi, der der ganzen Aktion staunend zugesehen hatte verschwand kläffend im Deponiewald und wurde nie wieder gesehen.