Ich bin kein besonders guter Fußballspieler. Deshalb hat es mich auch ein wenig verwundert, dass mein Vater, der König, ausgerechnet mit mir Fußball spielen wollte. Das Königreich war sehr klein. Es war so klein, dass man kein geeignetes Fußballfeld finden konnte und ich sonnte mich schon in der Vorstellung, das ganze Vorhaben würde abgeblasen. Der König entschied sich jedoch für ein denkbar ungeeignetes Fleckchen seines Reiches. Es war ein mit Bäumen bestandener Hang und dort, wo keine Bäume standen, ragte das Gras mannshoch aus der lehmigen Erde.
Ich war alleine in meiner Mannschaft. Der König hatte sich jedoch einige Adjutanten bestellt, damit er sich nicht selbst auf die unwürdige Arbeit einlassen musste. Ich machte den Vorschlag, das Feld längs zum Hang aufzubauen, der König meinte jedoch, so wären seine Mannen im Nachteil und entschied, dass ich aufwärts zu spielen hatte. Obwohl ich mit diesem Plan nicht einverstanden war, stimmte ich, etwas verbittert zu. Wer weiß, was mir gedroht hätte, wäre ich einmal nicht mit den Vorschlägen des Königs einverstanden gewesen.
Das Spiel begann, die Gegner führten den Anstoß aus und landeten gleich ein Tor. Das Tor, dass ich zu bewachen hatte, war eigentlich kein Tor. Der König hatte entschieden, dass jeder Ball, der hinter mir zu liegen kam, als Treffer gewertet werden soll. Das Tor des Gegners lag hoch oben am Hang, etwas versteckt hinter zwei Büschen, so unerreichbar, dass ich es während des ganzen Spiels gar nicht zu Gesicht bekommen habe. Dort gab es zwei Torwarte. Man traute mir wohl doch zu, dass ich den Ball bis dort oben schießen könnte.
Mir gelang ein Schuss von 1,20 Metern Weite, während die Gegner unter normalen Umständen 16 Meter schossen. Wenn ich mich aber vor sie warf, um das Schlimmste zu verhindern, legten sie sich mehr ins Zeug und schossen weiter als 16 Meter. Die Partei des Königs gewann mit 261 zu ½. Der Schiedsrichter, das war der König selbst, entschloss sich, um mich nicht zu entmutigen, einen Schuss von mir zu werten, den ich in den ersten Minuten des Spiels erzielte, der aber leider, weil ich am Hang ausrutschte, in die falsche Richtung abglitt und so in mein eigenes Tor kullerte. Eigentlich habe ich also mit 261 ½ zu 0 verloren. Ich hielt das für ein ganz passables Ergebnis, wenn man bedenkt, dass ich die letzten 25 Minuten des Spiels vor Entkräftung aussetzen musste.
Der König hielt mich allerdings für einen Taugenichts. Eben das wollte er wohl durch das Spiel auch bestätigt sehen. Für seine Mannschaft spendierte er eine Siegesfeier mit Spießbraten, Musik, Bier und den drei Huren, die er in seinem Reich duldete. Ich hatte dagegen nichts einzuwenden. Ehre wem Ehre gebührt. Aber ich war absolut nicht mit meiner Strafe einverstanden. Ich sollte das Tier füttern.
Das Tier lebte hoch oben in einem Turm. Ich hatte es noch nie zuvor gesehen. Man hielt es vor aller Welt versteckt. Der Turm war extra für das Tier in einem versteckten Winkel des Reiches gebaut worden. Alle zwei Wochen schickte der König jemanden, der Strafe verdient hatte, das Tier zu füttern.
Ich dachte, wenn das Tier so schrecklich ist, dass man es versteckt, warum lässt man es dann nicht einfach verhungern. Ich dachte, warum haben die anderen vor mir nicht auch so etwas gedacht. Vielleicht waren sie doch ein wenig neugierig auf dieses Geschöpf, so dass sie dem Gedanken, es zu sehen, nicht widerstehen konnten. Es waren ja alles kernige Kerle, sonst hätte der König sie ja nicht mit der Fütterung bestraft.
Wie es wohl aussah?
Ich bemerkte, dass auch in mir die Neugier wuchs, während ich schon mit einer halben Portion kalter Speisereste auf dem Weg zum Turm war. Was war es, hatte es Missbildungen? War es furchtbar groß? War es ekelerregend? Die anderen, die vor mir da waren, konnte ich schlecht fragen. Es ist ja keiner wiedergekommen.
Vielleicht bestand ja darin die Strafe. Dass man nicht wiederkommt. Wollte der König mich wirklich loswerden, bloß weil ich in diesem Spiel nicht so gut aussah?
Ich erreichte den Turm. Zu meiner Erleichterung war dort ein munteres Gedränge verschiedenster fieser Gestalten. Sie alle hatten eine Schüssel voller teils verwester Speisereste. Sie mussten schon lange hier sein. Der Grund, dass sie alle ihre Strafe noch nicht bis zu Ende verbüßt hatten, war, dass es dem Turm an einer Treppe fehlte. Da alle ihren Auftrag erfüllen wollten, hatte man mit dem Bau einer Leiter begonnen. Als ich ankam wurden gerade die letzten der 261 Sprossen angebracht. Und schon drängten die ersten Sträflinge in den Turm, um dort die Leiter aufzustellen. Alle wollten nach oben in der freudigen Gewissheit nun endlich ihre Strafe zu erfüllen und danach als freie Bürger zum König zurückzukehren. Ich überlegte noch kurz, ob es im Reich meines Vaters überhaupt Freiheit gab.
Niemand erkannten mich als Königssohn. Die meisten lachten aber spöttisch über mein verzagtes Äußeres. Ich würde mich gedulden müssen, bis ich an der Reihe war. Aber ich fragte mich, ob denn das Tier dann überhaupt noch Hunger hätte. Ich überlegte, ob die Strafe hieß, ich solle das Tier füttern, oder ich solle ihm Essen bringen. Das war ja ein Unterschied. Im letzteren Fall müsste ich mir keine Sorgen machen. Ich würde meine halbe Portion einfach zu den anderen 261 Schüsseln stellen und verschwinden. Sollte ich aber auch für den Verzehr verantwortlich sein, hätte ich mit Sicherheit ein Problem. So viel kann selbst das schlimmste Tier nicht auf einmal vertilgen. Oder doch?
Ja, lebte es denn überhaupt noch? Ich rechnete nach. 261 Schüsseln waren mit ihren Überbringern anwesend, zuzüglich meiner Wenigkeit. Falls der König so konsequent war, alle zwei Wochen jemanden zu bestrafen, und das ist nicht ganz sicher, hat das Tier bisher 524 Wochen hungern müssen. Das sind 10 Jahre und ein Monat. War es möglich für ein Tier, so lange Zeit durchzuhalten? Nur von der Gewissheit zu leben, dass das Essen schon noch kommen wird? Ich hatte da so meine Bedenken.
Nun war bereits die Leiter im Innern des Turmes mit den Sträflingen besetzt. Einige waren auch schon ganz oben angelangt und waren damit beschäftigt, auf diesem wackligen Ding stehend, die Dachluke zu öffnen. Vielleicht lag das hungrige Tier darauf. Es gelang nämlich nicht auf Anhieb zu ihm vorzudringen. Manche, die Essen bringen wollten, waren schon abgestürzt und man trug sie eben hinaus um sie in der Nähe zu bestatten. Mit jedem Absturz jedoch stieg meine Chance das Tier füttern zu können. Mit jedem Absturz stieg aber auch die Chance, dass das Tier verhungern würde.
Nach drei Tagen war ich endlich an der Reihe. Die Klappe war vor zwei Tagen aufgebrochen worden. Eine satte Ladung Dreck war auf die unten wartenden gestürzt. Ein sicheres Zeichen, dass das Tier lebte, und dass es sich zwischendurch auf anderer Art ernährt haben musste. Vielleicht gab es ja Fledermäuse unter dem Dach, die in der Not als Speise hergehalten hatten.
Da ich keine Lust verspürte, mich durch das Gewackel der anderen von der Leiter schleudern zu lassen, und da ich eh der letzte war, wartete ich, bis alle anderen die 261 Sprossen wieder herunter gekommen waren. Sie alle hatten ein so dermaßen vom Ekel verzerrtes Gesicht, dass ich nicht wagte, sie auf das Tier anzusprechen. Sobald sie aber wieder draußen waren, waren sie froh, nun endlich ihre Freiheit zurückerlangt zu haben und sie machten sich auf den Weg zum Königshof.
Ich stieg die Leiter empor. Als ich in der Mitte angelangt war, wurde mir schwindelig. Ich versuchte meine Augen nicht abschweifen zu lassen. Ich sah weder nach unten, noch nach oben. Von der Dachluke her war ein lautes Röcheln zu vernehmen. Ich stieg höher und das Röcheln wurde lauter. Ich kam ihm also näher, ihm, dem Tier, das sich in meiner Fantasie schon zu einem menschenfressenden Monster mit grünsabbernden Zähnen aufgebläht hatte.
Ich gelangte an die Luke und mich verließ das letzte Bisschen Mut. Ich wollte warten bis sich das Röcheln legte. Es wäre ja vielleicht möglich, dass ich es im Schlaf antreffe, sodass mir keine Gefahr drohte. Als es dunkel wurde begann das Röcheln tatsächlich nachzulassen, und meine Arme, die ich um die Leiter gekrampft hatte, begannen zu schmerzen. Ich wagte den Blick in das Dachgeschoss. Es brannte eine Kerze, eine große Kerze, an der jahrelang heißes Wachs hinunter geflossen sein musste. Es war durchaus möglich, dass sie vor zehn Jahren von den Häschern des Königs angesteckt worden war, damit das Tier sich in der dunklen Dachkammer nicht fürchtete. Nicht fürchtete? Hatte ich etwa Mitleid mit diesem Wesen, das ich noch nicht einmal gesehen hatte?
Dann nahm ich den klebrigen Geruch wahr, der in der seit Ewigkeiten ungelüfteten Dachkammer schwebte. Ich zog mich empor und suchte in dem Dämmerlicht nach dem Tier. Alles war übersät mit Schüsseln. Die meisten waren leer, sie blinkten fast im Kerzenschein, so sauber waren sie. In einer Ecke des Turmes befand sich eine Tür. In einer anderen lag ein mit labbrigen Fetzen behangenes Etwas. Das Tier, dachte ich. Hier liegt es, dachte ich. Ganz allein, dachte ich.
Ich ärgerte mich über mich selbst. Wie konnte ich nur mit so etwas Mitleid haben. Ich verbat mir noch länger darüber zu sinnieren, und ging mit meiner Schüssel auf das Tier zu. Dabei rutschte ich auf einer Hühnerkeule aus und strauchelte. Die Schüssel glitt mir aus den Händen und flog quer durch die dämmrigen Raum auf die Ecke des Turmes zu, in der das Ding lag. Ich sprang auf, hechtete durch den Raum und versuchte die Schüssel aufzufangen, bevor das Tier davon getroffen wurde. Es gelang, aber ich war drauf und dran das Gleichgewicht ein zweites Mal zu verlieren und drohte nun selbst auf das Bündel niederzustürzen.
Da drehte es sich um und richtete seine tiefblauen Augen auf mich. „Fast hättest du mich getroffen mit deiner Schüssel!“ sagte eine Stimme, wie aus einer anderen Welt zu mir. Das Tier konnte sprechen. Und es war auch gar kein Tier sondern ein bildhübsches Mädchen, dass mich bei der Hand nahm und mit mir durch eine Tür am anderen Ende des Turmes in einen wunderschönes Balkonzimmer ging. Hier hing ein Vogelkäfig, in dem sich ein Papagei befand. Das Mädchen nahm mir die Schüssel aus der Hand und stellte sie in den Käfig. Dann umarmte sie mich und lobte mich für das besonders frische Essen, dass ich ihrem Vogel gebracht hätte.
Ich stieg die Leiter nie wieder hinab.