Erzählungen

Der Schlangenbiss

Im Traum saß ich im Wohnzimmer auf dem Fußboden und schaute mir einen Film an. Er war spannend.

Einige Männer, sie waren alle Brüder, mühten sich damit ab, eine Brücke über einen tiefen Graben zu schlagen. Jenseits des Grabens lag das Land der grenzenlosen Fantasie.

Vielleicht haben auch Sie schon mal versucht, dieses Land zu erreichen. Vielleicht haben Sie aber auch nur wie ich einen Film darüber gesehen. Eventuell aber genügt es zum Verständnis dieser Erzählung, wenn sie wenigstens das Buch gelesen haben. Dann haben sie eine Ahnung davon, wie schwierig es ist, der Realität zu entweichen.

Die Brüder in meinem Film hatten sich jedenfalls alle Mühe gegeben. Ihr Werk war nahezu vollendet, es fehlten nur noch ein paar Schlusssteine. Um diese einsetzen zu können hatten sie ein Gerüst errichtet. Tausende Rohre, Stützen, Winkel und Bretter waren nötig gewesen. Wer in den Abendhimmel sah, wusste nicht mehr so genau, wo dieses Gerüst eigentlich endete. Mit Spannung erwarteten wir nun, wer die letzten Steine setzen würde. Die Steine, die dem ganzen Werk, den inneren Zusammenhalt geben sollten. Es musste jemand sein, der leicht genug war, bis ganz nach oben auf die Meta-Ebene zu klettern, ohne durch sein Gewicht das ganze Vorhaben ad absurdum zu führen. Es musste aber auch jemand sein, der stark genug war, die fehlenden Steine überhaupt erst da hinauf zu tragen. Die Wahl fiel auf den jüngsten Bruder, und das war ich.

Ich war leicht und stark und ungeschickt.

Diese letzte Eigenschaft hatte man bei den Erwägungen gar nicht berücksichtigt und sollte es sofort bereuen. Ich stürzte nämlich vor Beendigung der Arbeit von der Brückenmauer und riss das gesamte Gerüst mit mir in die Tiefe. Bloß, weil ich irgendetwas wichtiges übersehen hatte. Unten in der Tiefe angekommen versuchte ich verzweifelt mich aus den niederstürzenden Rohren, Winkeln, Stützen und Brettern zu befreien. Auf diese Weise werden wir das Land der unbegrenzten Fantasie nicht erreichen, dachte ich.

In diesem Moment tauchte aus dem Wasser des Grabens eine Schlange auf. Sie hatte nicht vor, das Land der unbegrenzten Fantasie zu erreichen. Sie wollte zu mir.

Allerdings verhedderte auch sie sich in den unzähligen Brettern, Rohren, Stützen und Winkeln. Auch ihr Vorhaben scheiterte und niemand wusste mehr, welche Teile nun zum Film, welche zum Traum, welche zur Erzählung und welche gar auf die Meta-Ebene gehörten.

Der Film war zwar noch nicht zu Ende, doch da das Projekt gescheitert war, stand ich auf, um den Fernseher auszuschalten. Dabei muss ich wohl den Kopf der Schlange berührt haben. Denn es machte kurz aber laut vernehmlich „Pling“! Nun konnte ihr das Ausschalten des Fernsehers gar nicht mehr schaden. Schnell und schlüpfrig versteckte sie sich unter dem Wohnzimmertisch und blieb dort bis zum Ende dieser Geschichte, allerdings nicht ohne mir vorher durch einen kleinen Biss zu signalisieren, dass sie tatsächlich real und echt und gar nicht nur geträumt, erzählt oder gefilmt war.

Ich spürte zwar einen heftigen Schmerz am Schienbein als sie zubiss, aber ich schenkte dem keine weitere Beachtung. Ich konnte mich ja mit dem Gedanken trösten, dass es sich nur um das Gift einer Filmschlange handelte, und darüber hinaus, einer Filmschlange aus einem Traum, ja und sogar noch darüber hinaus eine Traumfilmschlange in einer Erzählung. Schlangen könnten virtueller nicht sein, als in diesem Fall. Welcher Gefahr war ich also ausgesetzt? Keiner.

Ich erwachte am nächsten Morgen und bemerkte an meinem Schienbein an der Stelle der Filmtraumerzählungsbisswunde ein kleines schwarzgerändertes Kreuz, tief in meine Haut eingeritzt. Und eigentlich sofort begann der Filmtraumerzählungsschmerz von Neuem.

Ich meldete das Missgeschick telefonisch bei der GEZ. Da ich aber meine Gebühren in diesem Jahr noch nicht bezahlt hatte, fühlte sich dort bereit mir zu helfen.

Ich rief also bei einem Traumdeuter an. Dieser, so dachte ich, könnte ja die ganze Sache umdeuten und mich vom Schmerz befreien. Er schlief jedoch gerade, sodass ich auch hier nicht weiterkam.

Nur kurz dachte ich daran, jemanden vom Schriftstellerverband zu verklagen, entschied mich dann aber doch, einen Arzt aufzusuchen. Ein drittes Mal hielt ich das Telefon in der Hand, erreichte den gewünschten Arzt und wurde gebeten entweder nach Feierabend oder im Lauf des Abends in die Praxis zu kommen. Er vermutete gravierende Systemfehler, die ihn nach meiner Schilderung neugierig gemacht hätten und die er sich liebend gerne einmal anschauen wolle.

Ich brach sofort auf. Sehr langsam zunächst, denn das Gehen fiel mir schwer. Dank meines zähen Willens erreichte ich trotzdem gegen Abend eine recht ansehnliche Geschwindigkeit sodass ich noch im Lauf des Abends pünktlich die Arztpraxis erreichte, in der schon alle Lichter erloschen waren. Es war also Feierabend.

Als niemand mich einließ, brach ich die Tür auf. Dann meldete ich mich bei der Sprechstundenhilfe und bat sie, mir in der bevorstehenden Sprechstunde zu helfen. Sie lehnte ab und wollte mich, weil mein Zustand so unklar war, auf keinen Fall bis in das Zimmer des Arztes vorlassen. Ich war mir sicher, dass dieses Verhalten nicht ihrer Stellenbeschreibung entsprach. Sie allerdings war sich sicher, dass sie ihre Stelle genauso gut konträr beschreiben könne.

Außerdem vertrat sie die Meinung, ich könne mir die horrenden Arztkosten sowieso nicht leisten, meine Krankenkasse sei eh seit geraumer Zeit konkurs. Und es tue ihr leid und sie glaube, sie sei im falschen Film.

Ich sagte, dass bei der Vergabe der Filmrechte alles ganz akkurat abgelaufen sei, und dass ich das wissen müsse, weil es sich hierbei ursprünglich um eine Erzählung aus meiner Feder gehandelt hätte, weshalb man keinesfalls von einem falschen Film sprechen könne. Als sie sagte, dass es ihr im Traum nicht einfiele, mir in irgendeiner Weise entgegen zu kommen, und fragte, ob ich dem Land der unbegrenzten Fantasie entsprungen sei, da konnte ich sie nicht mehr ertragen, hielt inne und blendete aus.

In der nächsten Szene klopfte ich an die schwere Tür zum Arztzimmer und ging ohne auf Antwort zu hören hinein. Der Arzt blickte kurz auf und verlangte fünf Euro Diagnosevorbereitungsgebühr. Ich gab sie ihm und sofort begann er die Diagnose vorzubereiten. Die Spannung stieg ins Unermessliche. Dann sagte er, er könne mir nicht helfen.

Ich sank noch an Ort und Stelle in seiner Praxis zusammen. Einige Schweißbächlein rannen von meinen Schläfen. Sie wurden breiter und breiter. Im Tal sammelten sie sich und bildeten einen reißenden Strom, der mich mit sich riss, so reißend war der. Da schwamm ich nun recht passiv, trudelte mal ans linke, mal ans rechte Ufer, wurde aber immer wieder weitergezerrt und wenn mir vorher jemand gesagt hätte, dass die unbegrenzte Fantasie mit Sicherheit kein festes Land sei, dass man über eine Brücke einfach so betreten könne, sondern dass es sich im Gegenteil eher um ein Fluidum handele, auf dem der Geist des Menschen gänzlich ungelenkt doch nicht ziellos dahintriebe, dann hätte ich diese ganze Begebenheit zwar um vieles kürzer schildern können, wäre aber niemals ausgerechnet hier angekommen.