Erzählungen

Über die unzureichende menschliche Erinnerung

Wer soll das gesagt haben? Ich?

Ich kämpfe gegen meinen eigenen Kopf. Selbst, was ich denke, ist objektiv betrachtet Lüge. Meine Erinnerungen verblassen rapide. Wen ich mal gesehen, was ich mal getan habe, ist entweder Rauch oder Rausch.

Wer kennt meinen Namen? Wieso nicht ich den ihren?

Warum geht mich das immer noch an? Diese Frau, die ich angelächelt hatte, sie kannte mich, sogar mit Namen. Ich bin erschüttert, dass ich sie vergaß, dass ich alles vergaß.

Ich, der ich war, bin nicht ich, der ich bin. Wer früher einmal mit mir geredet hat, redete mit einem andern. Ich habe alles vergessen, weil ich nicht anders kann. Vielleicht wird mir manche Erinnerung zu schwer. Der, der daran zurückdenkt, ist wer anderes, als der, der ich war. Ich bin doch ein guter Mensch! Nur war ich es wohl nicht, so sagt man mir.

Es kommt wieder, alles kehrt zurück. Diese eine große Unerträglichkeit, diese charakterlose Schändlichkeit ist wieder da. Und ich werde ihr ausgeliefert. Von Leuten, die ich nicht kenne, die aber über mich Bescheid wissen, die mir im Unterton erzählen, was sie sich oben nicht getrauen. Doch, ich höre es sehr gut, was sie mir sagen wollen.

Diese kleine Schuldigkeit, dieses Versehen, war es nicht winzig klein?

War es nicht nur: zwei, drei Worte, laut gedacht?

War es nicht nur: ein Augenzwinkern und ein Tschüß?

War es nicht nur ein: Lass mich nun gehen! Es ist besser so!

Ich sagte Tschüß. Und alles war zerstört. Jedesmal zerstörte ich alles. Was soll ich noch immer daran zurückdenken.

War es am Ende eine Reaktion in einem Zustand, der nicht zu mir gehört, vielleicht sogar eine Krankheit ist? Aber bin ich nicht auch der, der krank ist? Und das ist ein Teil von mir, etwas, das an mir baut und schraubt und wieder einreißt. Und noch immer baut und noch immer schraubt und einreißt.

Wäre das wirklich zu leicht, einen Schuldigen zu suchen, der ich nicht bin, aber der ich mal war? Ich könnte mein Vergangenes weiter leugnen. Ich könnte weiter so tun, als werfe mich das alles nicht um.

Ich bin nicht mehr fähig Kontakte zu knüpfen und früher geknüpfte an ihrer Auflösung zu hindern. Wenn ich das sage, dann meine ich, dass mich zu viele heimsuchen. Die erinnern mich an die Vergangenheit. „Komm nach Hause, wir rufen dich!“, Aber ich will nichts Neues, ich will alles Alte vergessen. Etwas in mir steckt fest, in dem, wie ich war.

Ich bin also nicht der, der ich wirklich bin. Ich bin aber auch nicht immer der andere. Ich bin es nur selten. Ich bin nicht ich, und ich bin nicht wer anderes. Ich bin nicht zu durchschauen, weil ich mich selber nicht durchschauen kann, weil ich keine Identität habe. Die gelingt mir erst, wenn andere mich erkennen, als der, der ich bin. Nicht als der, der ich war.

Dieses Gesicht, das mir so unbewusst vertraut war, das früher einmal aufgetaucht war und in der falschen Situation da war und mich erlebte, wie ich schon damals gar nicht sein wollte. Das Gesicht war in meinem Kopf, schon seit damals. Und meines in ihrem.

Deshalb kam es mir so vertraut vor. Nur deshalb konnte ich es genießen, vorstellen, was hinter der Stirn passiert. Doch dann kam die Erinnerung zurück, nur weil ich sie nach ihrem Namen fragte. Und da entleerte sich, ganz unerwartet ein Eimer voller altem, abgestandenem Wassers zwischen unsere Gedanken. Wer hat uns den über die Köpfe gestülpt?

Hier, in diesen Zeilen bin ich nun zu finden. Nein, besser, ich bin zu suchen. Niemand findet mich, wenn ich selbst nicht weiß, wer ich bin. Aber suchen, suchen ist erlaubt. Wenn sich nur einer fände, der nach mir suchte.

Ich bin nicht hier in diesem Körper. Der Sucher sollte sich darüber im Klaren sein. Darüber, dass niemand wirklich in dem Körper ist, in dem er vorgibt zu sein. Es wäre zu einfach.

Jemand fand meinen Körper letzte Nacht, und nicht nur das. Er erkundigte sich nach meiner Seele, die doch gar nicht da ist.

Da existiert etwas in mir, das ist ein Gewimmel aus Drähten und Kabeln, die aus meinem Kopf heraus und die Wirbelsäule entlang in alle Gegenden meines Ichs tasten. Und die sind es, wonach man sich erkundigt. Doch weiß man nicht, wo all diese zarten Nervenfäden enden. Es könnte sein, sie bilden zusammen mit den kleinen elektro-chemischen Vorgängen eine Seele. Es könnte sein, aber man weiß nicht, wo das sein soll. Meine Seele hat kein Zentrum.

Sie ist unzerstörbar und selbstzerstörerisch ausufernd. Man kann ihr etwas nehmen, doch ist sie ja nicht wirklich da, deshalb wird ihr auch nicht fehlen, was man nimmt. Wenn sie nicht ist, sondern nur eine Möglichkeit ist, dann ist sie nicht identisch mit dem, von dem andere mir etwas nehmen können. Sie ist unidentifizierbar, sie ist vage, sie ist nicht ich.

Da endet so vieles und nimmt seinen Anfang in meinem Ich. Und alle Enden wissen über mich Bescheid. Und ich, der Kopf des ganzen, der Gebieter meiner Seele, weiß nichts über sie.

Ich würde mich gerne einmal erfassen. Ich würde gerne einmal spüren, wie dieses eine bestimmte Atom von meinem Kopf in irgendwelche Bahnen gleitet und dann wo ankommt, und auch genau weiß, was es da soll, aber es mir nicht sagt. Und ich spüre bloß das Resultat: Die Traurigkeit. Das Glück. Den Schmerz. Die Liebe.

Wer hat es denn wirklich losgeschickt. Mein Kopf? Oder war es diese andere, die da stand, die meine Augen sahen, die mein Mund ansprach, die mir Antwort gab. Und diese Antwort lief durch meine Ohren, spulte sich in die graue Masse und löste da ein winziges Atom heraus.

Ich habe es nicht wahrgenommen. Aber es kann nur so gewesen sein.

Ich habe nichts gehört, nur diese Stimme von außen.

Ich habe nichts gesehen, nur draußen im Nicht-ich, diese Frau, die da stand, schief und vorgereckt, verschraubt, wie ich nie stehen könnte. Sie war nicht ich und dennoch löste sie in meinem Kopf etwas aus, was sie wohl auch wollte.

So kam ich zum Nachdenken. Ich habe das nicht gewollt.

Ich muss weiterdenken:

Sie, die da stand, die etwas in mir auslöste, die mit ihrem Satz in mein Ohr eindrang, ohne dass ich es wollte, fast eine akustische Vergewaltigung, sie hatte auch nicht gewollt, so etwas zu sagen, was in mir so etwas auslöst. Sie hatte sich bei meinem Anblick erinnert gefühlt, sie hatte mich schon mal gesehen, bei bei irgendwem, und hatte gewusst: „Ja, dich kenne ich doch, ich weiß, was du ihr antatest, wie du mit ihr umgegangen bist, damals.“

Das fiel ihr ein, als sie mich sah. Das heißt, ihre Wahrnehmungsorgane verglichen unwillkürlich meine Erscheinung mit dem, was sie schon gesehen hatte. Und ohne dass sie es wollte, fand sich in ihrem Kopf ein Bild von einem Typen, der einmal irgendwann auf die und die Weise etwas getan oder gelassen hatte. Und vielleicht die nötige Höflichkeit ausgelassen, die einem sonst so gern die Sinne verpfuscht. Und als es sich in ihr erinnerte, da löste das einige Begriffe, die sie für solche Fälle abgespeichert hatte, abrufbar, und wurden auch abgerufen und wurden durch Zungenbewegungen aus ihr heraus gedrückt. In Luft verwandelt und so entladen aus dem Elektrogewirr in ihrem Kopf und sie war befreit von der Last ihrer so lange zurückgehaltenen unbewussten Erinnerungen an mich. Worte der Befreiung für sie. Und dann traf diese wortgeschwängerte Luft auf meine Ohren, die nicht weghören können, setzte eine Membran und eine Seele, die nicht ist, in eine Spannung, die sich nicht mehr lösen konnte, außer in einer Bewegung der Füße, die allein wissen, was sie mit meinem Körper wollen. Die trugen mich weg, weg von diesem Ort und weg von ihr und wieder einmal weit weg von mir.



Wombo- Schlagworte: unidentifierbare + Seele, Style: Blacklight