Ich hatte vom Unvermögen, nicht einschlafen zu können, geredet.
Du hattest gefragt, ob ich schwere Gedanken in mir wälze.
Ich schloss die Augen und prompt sah ich das weiße Pferd.
Es war allein, also leicht zu fassen. Es war nur ein Gedanke, eine Idee. Doch weiß ich bis jetzt nicht, wofür diese Idee nun da stand.
Eigentlich sah ich nicht das Pferd, sondern ich sah seine Rippen. Es war mager und alt. Es ging ganz langsam hin und her, meist jedoch schaute es nach rechts, wo die Zukunft ist, als ob von da noch etwas kommen könnte. Man konnte ihm folgen, nein ihr. Auch ihren Blicken. Ich denke es handelte sich um eine alte Stute. Sie wird wohl oft geboren haben.
Ein Blick in die Zukunft, getan von einem alten, weißen, weiblichen Pferd. Einem Pferd ohne Zukunft…
Man konnte ihn auch sehen, den Mangel an Leben im Körper des Pferdes. Ich erwähnte die Rippen. Dazwischen klafften Welten, der Brustkorb war ein leeres Sieb, das es unmöglich machte irgendetwas lungenartiges zu beherbergen. Alle Luft war außerhalb des Pferdes, kein atmendes Röcheln. Wohin sollte der Atem auch, was hätte der letzte Zug bewirkt? Er hätte das Pferd lediglich für den letzten Todeskampf gestärkt.
Sagte ich weiß? Ein weißes Pferd? Ja, es schien mir auch so, doch durfte ich ja näher schauen, es blieb ja stehen, konnte meiner Aufmerksamkeit nicht entweichen. Es hatte Flecken, graue, unansehnliche Flecken. Ich nahm sie natürlich für Zeichen des Alters. Gibt es junge, gefleckte Pferde?
Ich hatte auch nicht den Eindruck als würde dieses Wrack von Lebewesen stehen. Es hielt sich aufrecht. Jeden Augenblick könnten die Läufe zusammenknacken. Im übrigen, bevor sich ein falsches Bild festsetzt: Es stand nicht auf einer Pferdekoppel, oder in einem Stall. Es stand vor einer roten Ziegelsteinmauer mitten in einer Stadt auf dem Gehweg. Autos fuhren an ihm vorbei.
Ich könnte meinen es sei ein Relikt des Personentransports. Eine Erinnerung an umweltverträgliche Zeiten, wobei die Umweltverträglichkeit hier wohl darin bestand, dass man sich eben nicht fortbewegte. Was mich als nächstes fragen ließ, ob Stillstand und Verwurzelung wirklich umweltverträglich sein können, weil sich doch Leben (und das ist ja wohl das deutlichste Signal für eine gesunde Umwelt) in der Fortbewegung zeigt. Bevor ich aber über die Vor- und Nachteile von Schnellig- und Langsamkeit philosophiere, will ich lieber zum erstaunlichsten Punkt kommen.
Das Tier, das Überlebenswrack, hatte einen Wecker im Bauch, oder besser am Bauch. Man kann, das für verrückt halten, was es ja auch ist, aber das war so. Auf dem Bauch des Pferdes befand sich ein Zifferblatt und auch die zugehörigen Zeiger, und zwar nicht mal bloß aufgemalt sondern echt. Ich musste also annehmen, dass sich im Bauch des Tieres ein Uhrwerk befand. Es war genau 15 Uhr und 33 Minuten, dreiunddreißig nach drei. Und es war heiß an diesem Tag. So heiß, dass das Tier schwitzte. Und es war, als wolle das Tier mit der Uhr zeigen: Seht her! Nun stehe ich schon den ganzen Tag hier und schwitze mich kaputt und breche bald wohl zusammen und niemand nimmt Anteil.
Das Pferd klagte mich und den Lauf der Zeit an. Warum mich? Weil ich jung war? Wollte es mich daran erinnern, dass ich meine Zeit nutzen soll? Es wäre immerhin ein deutlicher Hinweis, dem ich auch nichts entgegenzusetzen hatte. Es hat ja Recht, das Pferd. Es hat mich durchschaut, obwohl ich es doch beobachte.
Andererseits ist die anklagende Haltung gegenüber den Automobilen auch nicht zu vernachlässigen, womit ich mir wieder sagen kann, ich soll nicht alles gleich auf mich beziehen. Vielleicht hat das Pferd ja überhaupt keinen Zweck gehabt. Es war vielleicht lediglich da, um mich ein wenig abzulenken. Immerhin hatte ich die ganze Zeit versucht, meiner Frau einen Orgasmus zu verschaffen, was heute nicht geklappt hatte, sodass ich nicht einschlafen konnte. Vor Sorge.
Und damit ich nicht gestehen muss, dass mein Versagen mich nicht einschlafen lässt, taucht da dieses Pferd in meinem Traum auf. So einfach als Argumentationshilfe. Es ist gut, dass hier eine alte weiße Stute steht, dann musst du dich nicht sorgen. Lebe!
Aber wahrscheinlich klingt das nicht. Was unterscheidet eigentlich alte weiße Stuten von alten weißen Hengsten? Und was unterscheidet alte weiße Stuten von alten weißen Schwänen, oder jungen schwarzen Eseln? Soll ich dem Bedeutung beimessen? Hat es überhaupt irgendetwas zu sagen, wenn ein Pferd auftaucht, statt, dass eines verschwindet? Hätte es statt der Uhr, nicht einen Koffer auf dem Bauch haben können, in den es sich dann selbst einpackt? Hätte es nicht sein können, dass es nicht im nächsten Moment zusammengebrochen wäre, sondern, von einem Automobil überfahren würde, unter der einstürzenden, roten, alten Ziegelsteinmauer begraben würde, ohne vorher erst groß zu sterben?
An dieser Stelle öffnete ich einfach meine Augen und konnte mich den Rest der Nacht über mit dem Gedanken beruhigen, dass alles nur Zufall war.