115 Es ist Zeit

Herr, es ist Zeit!

 

Da fallen sie nun die Blätter,

Da reifen nun die Früchte,

Da laufen nun die Menschen,

Da blinken nun die letzten Sonnenstrahlen.

 

Nach Haus,

Sie wollen alle nach Haus,

Sie wollen alle nach Haus,

Doch alle durcheinander,

Sie laufen alles durcheinander.

Der Herbst bringt alles durcheinander.

 

Herr, es ist Zeit!

Das Netzwerk ist so groß.

 

Da starren sie nach unten,

Den Kopf gesenkt ins Licht.

Die Blätter auf der Straße

Sehen sie nicht

Im Displaylicht.

 

Nach Haus,

Sie gehen alle nach Haus,

Sie gehen alle nach Haus,

Doch alles durcheinander,

Sie laufen alles durcheinander.

Der Herbst bringt alles durcheinander.

 

Auf den Fluren schick die Winde los!

 

Festen Schrittes, kalten Nackens,

Auf dem eingetretenen Damm

Ins sichre Haus, ins sichre Netz.

 

Dann sitzen sie im Zimmer

Und starren auf eine Wand,

Die hängt im Zimmer immer

Mit Farben allerhand.

 

Im Haus,

Sie sitzen alle im Haus,

Alle sitzen sie im Haus

Doch durcheinander,

Sie sprechen alle durcheinander.

Das Netz bringt alles durcheinander.

 

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr,

Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,

wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben.

 

Die goldnen Früchte reifen

Doch nicht im Telefon.

Die Stürme in den Straßen

Sind gemischt mit Datenstrom.

 

Geruch von Nuss und Äpfeln

Ist dem Gerät bekannt,

Doch folgt er nicht den Daten

Bis in das Zwischenland.

 

Sie treffen ihre Freunde

Und sehen sich nicht an.

Es reift ein bisschen Liebe

Im Netzwerk nebenan.


 


Rilke, Rainer Maria. (*1875+1926)

Herbsttag, in: Rilke, Rainer Maria: Das Buch der Bilder, entstanden im September1902 in Paris

Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren laß die Winde los.

Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gieb ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.