Hinter den Vorhängen

Wie immer kam ich zu spät. Man wartete auf mich, das wusste ich. Allerdings geschah dieses Warten in einem Saal, den ich nie zuvor gesehen hatte. Und das war auch der Grund dafür, dass ich zu spät kam. Ich fand ein sakrales Ambiente vor, als ich die schwere Eisentür geöffnet hatte. Es roch förmlich nach Heiligkeit. In diesem Saal also sollten wir spielen. Irgendwo in dessen Mitte sollten wir uns treffen, aber dorthin zu gelangen war, wie sich jetzt herausstellen wird, schwer.

Überall hingen Vorhänge von der Decke. Flauschige Vorhänge, an deren Rändern meine Hand mehr als einmal versehentlich vorbeistreifte, obgleich ich mir geschworen hatte, nichts anzufassen, was mir auf meinem Weg begegnete. Nichts sollte mich aufhalten, vor allem nichts, was scheinbar einzig und allein dem Zweck diente, mich aufzuhalten.

Ich musste mir jedoch eingestehen, dass diese winzigen Berührungen vermochten, meine Zielstrebigkeit zu unterlaufen. Die Vorhänge hatten etwas magisches. Jedes Mal, wenn ich vor solch einem Vorhang stand, verspürte ich ein Kitzeln auf meiner Haut. Es war, als seien die Vorhänge allesamt voller elektrischer Spannung.

So blieb ich das eine oder andere Mal einfach stehen, und ließ das Knistern, das sich da zwischen mir und der wolligen Oberfläche aufbaute, unter meine Haut dringen. Ich wollte es genießen, wie überall auf dem Körper kleine Feuer entfacht wurden, sich kurz ausbreiteten und verschwanden, um einer neuen Welle Platz zu machen.

Aber es war da noch etwas. Die Vermutung, dass diese Wände mir etwas verbergen sollten, dass ich hinter jeder von ihnen aufs Neue das erwartete, wonach ich suchte. Und diese nie abnehmende Hoffnung, war schon magisch genug. Gleichwohl meine Hoffnung von allen enttäuscht wurde, hatte ich doch nie Gelegenheit mich dieser Enttäuschung hinzugeben, denn in einiger Entfernung sah ich schon den nächsten Vorhang, der mich von meinem Ziel zu trennen schien.

Und so schritt ich jedem Vorhang entgegen. Mit jedem Schritt steigerte sich meine Vorfreude, endlich mein Ziel zu erreichen. Immer, wenn ich dann vor einem Vorhang stand, zögerte ich diesen Moment hinaus, der mir enthüllen sollte, ob sich meine Hoffnung bestätigen würde. Nur ganz langsam schob ich meinen Kopf um den Rand des Vorhangs, um ihn sofort wieder zurückzuziehen, weil mich die Vorfreude so in ihren Bann zog, dass ich sie nicht mit einem Schlag verlieren wollte. So schaute ich vorsichtig noch ein zweites und ein drittes Mal, um mir schließlich doch zu sagen, dass ich ja weiter musste. Man wartete immerhin auf mich.

Ich ließ also, weil die Zeit mich trieb, nicht zu, wozu mich diese Vorhänge verleiteten. Ich hätte vor jedem stehen bleiben wollen, aber ich enthielt mich bei einigen meiner Lust an dem Spiel zwischen Hoffnung und Enttäuschung.

Das Kitzeln jedoch verspürte ich jedes Mal. Und wenn ich auch an manchem Vorhang einfach vorbeiging, seine Strahlung nahm ich doch auf. Erst, wenn sich das Kitzeln so sehr in meinem Körper angestaut hatte, dass es wieder hinaus musste, ließ ich mich wieder auf mein Spielchen ein.

Ich war nun schon eine gute halbe Stunde durch den Saal gegangen und hatte meine Freunde nicht gefunden. So nach und nach vergaß ich aber, dass ich ja ihretwegen hier war. Sie jedoch vergaßen mich nicht. Sie konnten ohne mich nicht mit dem Spiel beginnen. So gingen sie hin und her, versuchten das Publikum zu beruhigen, manche verlangten schon ihr Geld zurück. All das kümmerte mich nun nicht mehr. Der Gedanke, ich müsse irgendwohin, war nur noch zur bloßen Idee verkümmert. Er hielt meine Freude aufrecht, mit der ich um die Vorhänge herumschlich. Sein Sinn war nicht mehr wichtig. So stand ich plötzlich hinter einem Vorhang und hatte gerade, um des Spiels Willen meinen Kopf vorgeschoben und war schon dabei ihn schnell wieder zurückzunehmen, als mir meine Erinnerung einen Körper vor die Augen stellte. Ich war zu schnell, um all das zu sehen, was ich hinter diesem Vorhang hätte sehen können, das war ja gerade der Sinn meines Spiels, nur langsam wollte ich enthüllen, um meine Vorfreude zu erhalten. Hatte ich diesen Körper gesehen, oder nicht? Mein Herz bebte schon. Das wäre über all meine Erwartungen hinaus gegangen. Ich trat einen Schritt vom Vorhang zurück, dessen Spannungen mich hier zu sehr trafen. Da war es als wölbte sich der Vorhang für einen kurzen Moment vor, bloß um mir eine Kontur auf die Netzhaut zu malen, die mit dem Körper, den ich vorhin glaubte gesehen zu haben, übereinstimmte. Ich erschrak, leise. Ich hielt den Atem an.

Mit zaghaften Schritten ging ich wieder auf den Vorhang zu. Zitternd reckte ich meinen Hals dem Saum zu. Zentimeter für Zentimeter gelangte ich weiter, dreimal zog ich den Kopf wieder zurück, bevor ich mich traute, vollständig dahinter zu sehen. – Nichts. Doch hörte ich weiter vorne ein paar schnelle Schritte und als ich meinen Kopf in die Richtung wendete konnte ich auch einen nackten Fuß erblicken, bevor er hinter einer Wand verschwand.

Ich lief diesem Anblick nach und musste dieses Mal schneller hinter dem wallenden Stoff hervorlugen, nichts mehr wollte ich verpassen. Als ich den Vorhang umrundet hatte, begann der Saal zu applaudieren, ein Flügel stand bereit, ich setzte mich hin und wir konnten unser Programm beginnen. Es muss eine gute Vorstellung gewesen sein. Ich erinnere mich aber an nichts. Mechanisch spielte ich meine Rolle ab, und dachte an diesen einen Fuß, an den Körper, den ich gesehen hatte.

Am Schluss des Programms erschallte erneut Beifall. Ich verbeugte mich mit den anderen, aber ohne sie wahrzunehmen. Auch ihre Fragen, wo ich gewesen sei, nahm ich nicht wirklich wahr und antwortete irgendetwas.

Der Weg aus dem Saal heraus gestaltete sich sehr einfach und unkompliziert. Es dauerte nicht einmal zwei Minuten, wofür ich vorher vierzig gebraucht hatte. Ein Taxi brachte mich vor meine Haustür, ich öffnete ging hinein, setzte mich auf das Bett in dem meine Frau schon schlief.

Durch meine Bewegung wachte sie auf, und schaute mich freundlich an. Ich antwortete ihr auf irgendwelche Fragen, bis sie sich plötzlich erhob, unter der Decke hervorkroch und in Richtung Flur verschwand. Langsam blickte ich ihr nach, zu langsam, denn alles was ich noch von ihr sehen konnte, war ihr nackter Fuß, der hinter dem Türrahmen verschwand. Ich stürmte ihr nach, sie war noch nicht weit gekommen. „Wohin gehst du?“ fragte ich und „Geh nicht weg!“ stieß es aus mir heraus. „Ich will bloß zur Küche, ich habe Durst. Was ist denn los mit dir?“ – Nichts, dachte ich, nichts. Ich hielt sie an ihrer Hand und führte sie zurück ins Schlafzimmer. „Nur ein Déjà-vu, wahrscheinlich.“



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