Willi Fobbe - ein kurzes Leben

01. Eine Familie während der Weltkriege

"Willi - bist du es?“ - "Nein, ich bin's, dein Enkelkind!"

 

Oma konnte so schön erzählen von früher. Ich habe das als Kind geliebt.

Sie war aber immer unruhig, wenn sie von den Opfern des Krieges erzählte. Ihr Ich war wie eine Spinne in einem Gedanken-Netz. Es wollte jedes Zucken erfassen. Und dann stürmte ihre Zunge los, um den Faden aufzunehmen. Aber die Verästelungen waren zu fein, und es entstanden zu viele kleine Risse, die sie nicht mehr rechtzeitig flicken konnte, bevor das ganze Konstrukt ihrer Erinnerungen zusammenbrach.

In Omas Kopf rissen die Gedankenfäden immer wieder ab. Ihr Netz war aus Traurigkeit gewebt. Und die Traurigkeit hat sie von den vielen vielen Toten, die in viel zu schneller Folge große Schatten auf die Familie warfen. Die Trauer drehte sich nicht nur um Wilhelm, ihren Mann, meinen Opa, der erst spät aus Russland zurückkam. Sie drehte sich besonders um Willi, ihren kleinen Bruder.

Willi war nämlich ziemlich schnell tot und konnte sich nicht erst noch die Mühe machen wie Opa, nochmal nach Hause zu kommen. Dabei hatte Oma ihn doch groß gezogen und ihm die Liebe gegeben, die die Mutter ihm und ihr nicht geben konnte. Er kam nicht wieder. Aber geschrieben hat er. Aus dem Krieg.

Über Josef und Friedrich haben andere aus dem Krieg geschrieben. Das war eine Generation zuvor.


 

"Ach da bist du ja doch noch wieder gekommen!" - "Nein, ich bin's nur!"

 

Ich möchte auf den folgenden Seiten einen Einblick in die Schicksalsschläge meiner Familie geben.

Man stelle sich vor, wie viele weitere Familien ebenso unter den beiden Weltkriegen gelitten haben. Meine Familie steht mit diesem Schicksal nicht allein. Wenn ich mich frage, wie viele Tote eine Familie ertragen kann, frage ich mich zugleich, wie viele Tote und Morde ein ganzes Land ertragen kann.

Die Trauer, die aus meiner Oma sprach, ist die Trauer einer ganzen Generation, die millionenfach zu Tätern wurde und millionenfach Opfer in fremden und den eigenen Familien verursachte. Und es spricht die Trauer der vorherigen Generationen, die schon im ersten Weltkrieg für Ziele fremder Herren fielen.

Aus den Briefen Willis spricht an keiner Stelle die Ideologie der Nationalsozialisten. Er denkt an seine Familie, an die Ernte, bei der er nicht helfen kann, er denkt an seine Freunde. Er will seine Heimat verteidigen, nicht Führer, nicht Volk, nicht Vaterland, sondern das kleine Stückchen Heimat, in der seine Lieben trotz des Krieges den Alltag bewältigen müssen.

Auf Josefs und Friedrichs Schicksal dagegen werfen nur zwei Feldpostkarten aus dem Ersten Weltkrieg ein kleines schreckliches Schlaglicht. So wie auch auf das Leid der Generation meiner Urgroßeltern.


 

Auf diesem Bild ist die Familie von Josef und Friedrich Fobbe zu sehen.

Familie Fobbe um 1918

 

Josef Fobbe lebte vom 19. Dezember 1839 bis zum 19. Februar 1922. Er sitzt in der Mitte. Links sitzt seine Frau Elisabeth. Sie lebte vom 2. Februar 1851 bis zum 26. Juni 1916.

Rechts sitzt Maria Fobbe, die Schwiegertochter. Sie lebte vom 6. August 1886 bis zum 6. April 1928. Ihre drei Töchter heißen Elisabeth, Margarete und Maria. Ihr Mann Heinrich ist auf dem Bild nicht zu sehen.

Heinrichs Geschwister sind ebenfalls nicht zu sehen. Wilhelm starb zwei Monate nach der Geburt 1878. Zehn Jahre später starb Anton als 6-jähriges Kind.

Am 1. August 1914 erfolgte die Kriegserklärung an Russland. Josef, Friedrich und Franz sind deshalb nicht zu sehen.

Josef lebte vom 23. März 1888 bis zum 24. August 1915.

Friedrich lebte vom 19. Oktober 1891 bis zum 22. August 1915.

Franz kehrte verwundet aus Frankreich zurück.

Die Mutter Maria starb bald darauf. Der Verlust so vieler Kinder war zu groß für sie.


 

 Auf dem zweiten Foto sieht man Heinrich Fobbe.

Uropa Heinrich Fobbe in seinem Garten

 

Heinrich Fobbe, der Vater von Willi und Maria, mein Urgroßvater, lebte vom 16. August 1879 bis zum 17. Februar 1970.


 

Auf dem dritten Foto ist Willi Fobbe abgebildet.

Porträt von Willi Fobbe

 

Willi lebte vom 02. Mai 1926 bis zum 11. Juli 1944.

Willis Mutter Maria starb, als er zwei Jahre alt war. Seine große Schwester, die ebenfalls Maria hieß war zu dem Zeitpunkt dreizehn Jahre alt und musste die Rolle der Mutter einnehmen, als ihre älteren Schwestern Margarete und Elisabeth zu ihren Männern nach Dortmund zogen.


 

Hier sind man Maria Bracht, geborene Fobbe, und ihr Mann Wilhelm abgebildet.

Porträt Wilhelm und Maria Bracht

 

Maria, Willis Schwester und Ersatzmutter lebte vom 06. November 1913 bis zum 07. Januar 2008. Maria ist auf dem oberen Foto das kleinste der drei Mädchen.

Wilhelm lebte vom 14. April 1908 bis zum 03. Januar 1977. Er kam spät aus Russland zurück.

Ihr kleiner Bruder Willi, der für sie wie ein Sohn war, kam nicht zurück.


 

Auf der nächsten Seite erzähle ich von Josef und Friedrich, die im ersten Weltkrieg gekämpft haben und gestorben sind, und deren Tod auch dafür verantwortlich war, dass meine Oma ihren kleinen Bruder Willi erziehen sollte.